13. Der Palmenbaum, die Kathisma-Kirche und der Felsendom

Im Evangelium heisst es: „Als die Sterndeuter wieder gegangen waren, siehe, da erschien dem Josef im Traum der Engel des Herrn und sagte: ‚Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten. Dort bleibe, bis ich dir anderes auftrage, denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten‘. Da stand Josef auf und floh in der Nacht mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten. Dort blieb er bis zum Tod des Herodes...“ (Matthäus 2:13-15).

Der apokryphe Bericht des Pseudo-Matthäus, der aus dem Ende des sechsten oder Anfang des siebten Jahrhunderts stammt, erzählt uns, dass das Jesuskind (‘Issa) auf dem Weg nach Ägypten ein Wunder erlebte, als sich eine Palme bückte und die heilige Familie mit ihren Früchten versorgte. Da sagte Jesus (‘Issa) zu ihr: „Steh aufrecht, Palme, stärke dich und sei ein Gefährte der Bäume, die ich im Paradies meines Vaters besitze“, und daraufhin sprudelte von den Wurzeln eben dieser Palme aus klares und süßes Wasser, „und sie tranken mit ihren Tieren und ihren Dienern und dankten Gott“ (Pseudo-Matthäus 20:1-2) [1].

Diese Überlieferung von der Palme findet sich im Koran in der Sure Maryam, wo das Kind ‘Issa (Jesus) zu Maryam sagt:

„Schüttle zu dir den Palmenstamm, so lässt er frische, reife Datteln auf dich herabfallen. So iss und trink und sei frohen Mutes. Und wenn du nun jemanden von den Menschen sehen solltest, dann sag: Ich habe dem Allerbarmer Fasten gelobt, so werde ich heute mit keinem Menschenwesen sprechen“ (S. 19:25-26).

An einer Stelle werden die beiden Überlieferungen zusammengeführt; in einer wird die Geschichte mit der Palme während der Flucht nach Ägypten angesiedel und in der anderen zur Zeit der Geburt von ‘Issa [2]. Der Ort, um den es sich handelt, ist die Kathisma-Kirche, die zwischen Jerusalem und Bethlehem lag und deren Fundamente kürzlich gefunden wurden.

 

Palmier 1

Bei Ausgrabungen in der Kirche von Kathisma wurden drei Schichten freigelegt, die erste aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, die zweite aus dem frühen 6. und die dritte aus dem frühen 8. Jahrhundert. In einem der Räume (südöstlich des äusseren Oktogons) zeigt das Mosaik eine grosse Palme, die von zwei kleineren Palmen flankiert wird - ein direkter Hinweis auf die apokryphe christliche und auf die koranische Erzählung.

Noch wichtiger ist, dass die Ausgrabungen eine klare Vorstellung davon vermitteln, dass es sich um ein Achteck handelte, das einen Felsen umgab, auf dem die Heilige Jungfrau Maria (Maryam, die Reinste) sich auf ihrem Weg ausgeruht haben soll. Dieser Felsen bildet also das Zentrum, genau wie im heutigen Felsendom – der ebenfalls ein Achteck ist, das einen anderen Felsen umgibt. Dieser Kuppeldom, den man auch 'Umar-Moschee nennt, wurde Ende des siebten Jahrhunderts (unter 'Abd Al-Malik) erbaut und war eindeutig von der Kathisma-Kirche inspiriert, die später abgerissen wurde.

Comparaison kathisma felsendom

Die Archäologie und die Geschichte von der Palme sollten uns aber die wichtige Botschaft nicht vergessen lassen, dass Bethlehem gesegnetes Land ist, das erhabenste in den Augen Gottes und der Menschen, weil in dieser Stadt der Al-Massih, das Wort Gottes, geboren wurde. Aber dieses unermessliche Gut des Kommens des Wortes Gottes entfesselt den Hass von Shaytan. Von ihm wurde Herodes angestachelt und liess alle Kinder von Bethlehem massakrieren, doch Al-Masih und seine Mutter Maryam entkamen ihm durch ihre Flucht nach Ägypten.

Und diese Botschaft geht uns auch heute etwas an. In unserer Zeit inspiriert Shaytan immer noch das Abschlachten von Tausenden von Kindern, durch Bomben und Raketen oder auf andere Weise. Wie vor 2000 Jahren ist es Menschen unmöglich, das alles wiedergutzumachen, und der Kreislauf der Rache ist eine Sackgasse. Wir müssen dem Weg der Hirten von Bethlehem folgen: In ihrer Trauer verstanden sie es, darauf zu warten, dass Al-Massih durch die Wunden seiner Passion und die Tränen seiner heiligen Mutter diese Welle des Bösen auf sich nimmt und so die Welt durch die Kraft der Liebe rettet.

 


 

[1] Übersetzung nach J. Gijsel, in F. Bovon und P. Geoltrain (Hrsg.), Écrits apocryphes chrétiens (I), La Pléiade, Paris, 1997, S. 138.

[2] Vgl. Guillaume DYE, « Lieux saints communs, partagés ou confisqués : aux sources de quelques péricopes coraniques (Q 19 : 16-33)", in : Partage du sacré : transferts, dévotions mixtes, rivalités interconfessionnelles, unter der Leitung von Isabelle Dépret und Guillaume Dye, Bruxelles-Fernelmont, EME, 2012, pp. 55-121